Der Tatort Leyden ist in diesem Fall fiktiv. Die Autorin vermeidet bewusst nähere Ortsangaben. Weil mehrfach die Rede von Frankfurt ist, habe ich die Handlung nach Deutschland „verlegt“.
Im Mittelpunkt steht für die Autorin einzig und allein die Handlung. Denn wo diese Geschichte sich ereignet, ist nicht von Belang. Der Ort des Geschehens, ich vermeide bewusst den Begriff Tatort, kann überall sein. Im Mittelpunkt steht die kleine überschaubare Welt einer Institution, die sich um das Wohl und das Gedeihen junger Menschen kümmern soll.
Für mich, als engagierten und begeisterten Leser von Regionalkrimis, die bestimmten Ansprüchen hinsichtlich ihrer Sprache und ihrer Geschichten gerecht werden müssen, passte Die Nacht in Dir überhaupt nicht in mein Schema. Der Inhalt des Klappentextes weckte keine Neugier in mir. Doch wie kann ich etwas bewerten, was ich nicht gelesen habe? Das aus meiner Sicht „dicke“ Buch (414 Seiten) und ich wollten einfach keine Freunde werden.
Der Sommerurlaub bescherte mir viel Lese-Zeit, ich nahm das Buch mit und wartete auf die richtige Stimmung für Die Nacht in Dir. Dieser Band erzählt zwar eine eigene Geschichte, knüpft aber an die Handlung der vorangegangenen an, die den Titel Das Falsche in mir trägt. Der erste Band erschien im Januar 2014, der zweite im Juni 2016 – beide bei dtv premium.
„Ich bin der, der niemand sein will. Die Dunkelheit, das Desaster, der Albtraum. Ich bin das, wovor sich alle fürchten. Das Unfassbare, das Undenkbare: ein Mörder, den die Justiz frei herumlaufen lassen muss, weil er nicht mordet. Nicht mehr. Oder noch nicht, das weiß niemand, nicht einmal der Mörder selbst. Ich bin der, vor dessen Haus eine Meute hasserfüllter Bürger Tag und Nacht demonstrieren würde – wenn die Meute wüsste, wo ich wohne.“
Der das von sich sagt hieß einmal Lukas Salfeld und nach Annahme seiner neuen Identität: Larache. Sein Äußeres ließ er verändern, Therapiesitzungen muss er sich regelmäßig unterziehen und in regelmäßigen Abständen muss er auch den Besuch der Kommissarin Sina Rastegar akzeptieren, von diesen Treffen wissen übrigens nur wenige Eingeweihte.
Die Autorin lässt den Leser teilhaben an den intimsten Gedanken des Lukas Larache. Bereits diese Gedanken machen sprachlos und weisen auf die Gefährlichkeit dieses Mannes hin. Doch solange nichts geschieht, hat die Welt für ihn und die Außenstehenden in Ordnung zu sein.
Ach ja, Lukas Larache ist nicht unsympathisch, der nüchtern denkende Leser hat keinen Grund, Abneigung zu verspüren. Das käme ja einer Vorverurteilung gleich. So geht es auch der Kommissarin, sie denkt und handelt wie ein Profi, wenn Sie mit ihm zusammentrifft.
Soweit die Routine.
Diese wird unterbrochen, als Sina Rastegar den wieder auf freiem Fuß lebenden Mörder um Unterstützung bei der Aufklärung eines mysteriösen Mordfalles bittet.
Eine einmalige, unerhörte Form der Zusammenarbeit!
Zwei starke Figuren, die nicht unterschiedlicher sein könnten, treffen hier aufeinander. Doch Sina Rastegar will mit Hilfe von Lukas Larache erfahren, wie ein Mörder denkt, fühlt und handelt. Sonst ist sie hilflos. Die Einzelkämpferin Sina Rastegar beweist großen Mut, in dem sie ihrer Überzeugung treu bleibt, obwohl sie die Meinung einer ganzen Stadt gegen sich hat.
Erbarmungslos wird der Leser mit der Welt des Bösen konfrontiert. Die Autorin zeigt sehr deutlich die Abgründe menschlicher Fantasien und die Bedenkenlosigkeit von Vor-Verurteilungen. Und sie schafft gleichzeitig mit der Figur der Protagonistin Sina Rastegar ein starkes Gegengewicht – dabei ist diese Frau wahrhaftig keine Heldin. Nur eben hartnäckig und von der Richtigkeit ihres Tuns überzeugt – obwohl sie weiß, dass niemand in der Stadt Verständnis für ihr Handeln zeigen würde.
Christa Bernuth blendet all das aus, was von der eigentlichen Handlung ablenken könnte. Denn Die Nacht in Dir soll nicht nur als Thriller verstanden werden, sondern auch als Botschaft. Die Autorin zeigt in übergroßer Deutlichkeit, was geschehen kann, wenn Einsamkeit sprachlos macht. Und das Gefühl, einsam zu sein, bzw. allein gelassen zu werden, beginnt bereits bei den Jugendlichen - den besonders Hilflosen.