Rezension
Das ist der siebenundzwanzigste Fall des Commissario Brunetti. Es könnte durchaus auch Band eins einer neuen Brunetti-Reihe sein.
Das gefällt mir. Donna Leon bietet ihren Lesern etwas Neues. Eine neue Erzählform. Die Autorin bringt es fertig, behutsam in eine fast schon romanhafte Erzählweise umzuschwenken. Die Akteure sind allesamt bekannt und vertraut. Man begrüßt jede Person mit einem innerlichen Kopfnicken und freut sich bei der Erwähnung ihrer Eigenheiten und Eigenarten. Mit viel Wohlwollen und ein wenig Nachsicht begrüßen wir den Vice-Questore Patta, freuen uns über das verbindliche Lächeln von Signorina Elettra und sind versucht, Ispettore Vianello kumpelhaft zuzuzwinkern. Wir freuen uns über die Dialoge zwischen den Eheleuten Brunetti ebenso, wie über die ihre wohlgeratenen halbwüchsigen Kinder.
Stirnrunzel verursacht allein das Verhalten des Tenente Scarpa, der unter Artenschutz zu stehen scheint. Er kann nach Belieben agieren und kleine Bosheiten verteilen, was er auch nach Kräften tut – schließlich hält der Vice-Questore seine Hand schützend über ihn.
Wo bleibt die Untat, das Verbrechen?
Dies ist ein Krimi. Der Leser erwartet Aufregung und Aufklärung.
Unmerklich und quälend langsam entsteht Aufregung unter den handelnden Personen. Es ist die Art von Aufregung, die man ständig spürt, die man so schnell nicht loswird. Sie klebt an einem wie Kaugummi. Ekelhaft. Störend. Man findet kein Mittel dagegen, weiß aber, dass man dagegen etwas tun muss. Abwarten hilft nicht.
Die erste Aufregung wird verursacht durch ein Gerücht, besser gesagt, durch eine Vermutung. Sie besagt, dass es in der Questura eine undichte Stelle gibt: Der Name einer zur Vernehmung vorgeladenen Person ist offenbar an die Öffentlichkeit gedrungen. Diese Vermutung erhält zusätzliche Bedeutung durch die Quelle der Behauptung: Tenente Scarpa. Somit muss! das Gerücht ernst genommen und unbedingt aufgeklärt werden.
Den zweiten Grund zur Aufregung trägt Professoressa Crosera, eine Kollegin von Paola, in die Questura.
Über Seiten quält sich die Mutter zweier Kinder, Brunetti den Grund ihres Besuches vorzutragen. Ja, so muss sich eine Mutter anhören, die ihrem Sohn Drogenkonsum unterstellt.
Ist das alles?
Es geht schließlich "nur" um Drogenkonsum, nicht um Drogenhandel.
Brunetti fühlt sich hilflos. Was soll er tun? Wo anfangen?
Aufgeschreckt wird der Commissario erst durch ein Ereignis, dass ihn zum Handeln zwingt. Der Ehemann der Professoressa wird nachts niedergeschlagen. Ein Grund scheint nicht erkennbar - die Schwere der Verletzungen macht alerdings mehr als nachdenklich. 
Spätestens jetzt ist Ermittlertätigkeit gefragt. In seiner aus Neapel stammenden Kollegin Claudia Griffoni hat Brunetti den idealen weiblichen Part in diesem Fall.
Die beiden laufen zur Hochform auf und Donna Leon zeigt wieder einmal, was sie kann. Nämlich dem Leser eine spannende Geschichte zu bieten, deren Ende fassungslos macht und nicht in den kühnsten Träumen vorhersehbar war.
Heimliche Versuchung erschien Ende Mai 2018 bei Diogenes, wie die vorangegangenen 26 Fälle des Commissario Brunetti auch.
Donna Leon
Heimliche Versuchung


Bewertung

5/5 Region

5/5 Sprache

5/5 Originalität

5/5 Emotion

5/5 Plot (das Handlungsgerüst)


Gesamtbewertung

Informatives

Autor/en

Donna Leon verließ mit 23 Jahren New Jersey, wo sie 1942 geboren worden war, um in Perugia und Siena weiter zu studieren. Sie arbeitete als Reiseleiterin in Rom, als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin an amerikanischen Schulen in der Schweiz, im Iran, in China und Saudi-Arabien. Seit 1981 wohnt und arbeitet Donna Leon in Venedig.

Kommissar/e

Guido Brunetti. Keinen Kommissar kenne ich so gut wie ihn. Der Familienvater hat eine traumhafte Wohnung in Venedig, einen unbequemen Vicequestore, eine kluge Kollegin (Signorina Elettra) und einen reichen Schwiegervater. Ich stelle ihn mir genau so vor wie Uwe Kockisch in der Filmrolle.

Tatort/e