Haben Sie schon einen Krimi von Andrea Nagele gelesen?
Nein? Schade.
Ja? Dann sind Sie sie mit Sicherheit ein Fan von ihr, ein stiller Bewunderer über das Medium Buch.
Diesen Grad an leichter Irritation, den Sie vielleicht im Moment verspüren, besaß ich zu Beginn dieses Buches auch. Aber ich kenne ja „meine“ Autorin. Sie schreibt ernsthaft, verfolgt ihr Thema gewissenhaft und vermittelt dem Leser jederzeit das Gefühl vorbildlicher Recherche. Denn gerade bei einem so sensiblen Thema, es geht um Babys!, ist der Spaßfaktor klein zu halten (unabhängig vom Vergnügen, ein solches Buch zu lesen).
Mir fällt nach dem Lesen einiger Seiten spontan die Beschreibung „ungläubig“ ein. Dieses Wort verfolgt mich durch das ganze Buch. Es passt, wohin ich auch schaue.
Ungläubig beobachte ich das Verhalten von Helene Kasper, die junge Mutter hat vor wenigen Tagen entbunden. Max, ihren Sohn, besucht sie im Säuglingszimmer, so oft es geht. Babys sehen auf den ersten Blick alle gleich aus. Also behilft sich Helene mit Zählen: „Eins, zwei, drei. Das Dritte von links.“
Alles klar. Doch ihr Max sieht so aus, wie nur ihr Max aussehen kann.
„Eins, zwei, drei. Das Dritte von links.“
Kein Max. Ein fremdes Kind!
Da nicht sein kann, was nicht sein darf, schaut Helene nur in die Augen von ungläubigen Gesichtern. In die von Schwestern und in das von Emanuel Friede, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie.
Übereinstimmende Feststellung: Helene irrt, um das mal ganz vorsichtig auszudrücken. Denn wer so vehement und nachdrücklich behauptet, das Kind in ihren Armen sei nicht ihr Kind, der erntet nur ungläubiges Kopfschütteln.
Helene vertraut sich Alice an. Alice ist Rosners Lebensgefährtin und liegt einige Zimmer weiter. Alice fällt die Vermittlerrolle zu Rosner zu. Kommissar Rosner, stets nur Rosner genannt ist …, Sie ahnen es … ungläubig. Rosner ist mit seinen Gedanken überall, bei seiner Arbeit, bei seiner Alice und bei der der Bezähmung seiner Alkoholsucht. Nur nicht bei Helene und dem verschwundenen Max.
Wieder bin ich ungläubig angesichts dieser Ignoranz. Helenes Verhalten wird immer verzweifelter, wenn es denn dafür eine Steigerung gibt.
Rosner tut immer noch nichts.
Das Verhalten der Schwestern und des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie lösen beim Leser ungläubiges Staunen, aber (natürlich) nicht die gewünschte Reaktion aus.
Die Autorin bietet dem Leser eine zweite Zeitebene an. Zur Geschichte gibt es eine Vorgeschichte.
Keine Lösung in Sicht?
Keine logische Erklärung?
Doch, und auch die löst beim Leser zunächst ungläubiges Staunen aus und ganz unterschwellig auch eine Spur von Mitleid.
Kärntner Wiegenlied hat mich eine Nacht gekostet, liebe Autorin. In der ich nicht geschlafen, sondern nur gelesen habe. Versuchen Sie nicht zu blättern, lieber Leser. Das bringt nichts. Sie müssen Seite für Seite lesen. Bis zum Ende.
Das Buch ist Mitte Oktober 2017 erschienen und, wie ihre vorherigen Krimis auch, bei emons:. Ich weise an dieser Stelle noch einmal auf ihre Website andreanagele.at hin.