Eine Rezension zu diesem Buch zu schreiben war eine echte Herausforderung für mich. Das muss ich ehrlicherweise zugeben. Anderen Rezensenten muss es ähnlich ergangen sein, wenn ich mir die Inhalte ihrer Beschreibungen zu Gemüte führe.
Bereits die Bewertung „Krimi“ passt einfach nicht zu Milde Gaben, Commissario Brunettis einunddreißigsten Fall. Einzig und allein die Einordnung der Buchtitel in die Reihenfolge der Erscheinungen gestattet die Bezeichnung „Fall“.
Schließlich ist es kein Fall. Nichts ist geschehen, was das Eingreifen der Polizei erfordert. Ein Gedanke, eine Vermutung bzw. ein Verdacht führen eine Jugendfreundin zu Commissario Brunetti.
Sie spricht ihn als Freund an – nicht als Polizisten.
Brunetti soll das tun, wozu sie nicht in der Lage ist.
Der Commissario schart seine Getreuen um sich, als da sind: seine Kollegin Claudia Griffoni, Signorina Elettra, Vianello und Pucetti.
Patta scheint in dieser Geschichte nicht zu existieren.
Donna Leon scheint sich in dieser Geschichte eines anderen Sprachschatzes zu bedienen. Wir lauschen Brunetti, wenn er zu philosophieren beginnt. Seine Wege durch die Stadt werden von nie zuvor geäußerten Gedanken begleitet.
Das ist neu.
Mühsam ist der Weg der geheim agierenden Ermittlergruppe. Jeder trägt seinen Teil dazu bei.
In Milde Gaben geht es nicht um Mord und Totschlag.
Es geht um Scheinfirmen, sorgsam vorbereiteten Betrug. Und natürlich das zähe Bemühen, den Akteuren, den Drahtziehern auf die Spur zu kommen.
Es ist kein Krimi, in dem die Leserschaft der Auflösung eines Falles entgegenfiebert. Wo Vermutungen und Verdächtigungen geäußert werden.
Der Leser muss umdenken. Es gibt auch spannende und dazu unterhaltsame Geschichten, in denen kein Blut fließt - dazu gehört Milde Gaben.
Der Leser muss auch lernen, langsam zu lesen, verstehen lernen – das gilt auch für die Figur des Brunetti.
Ich habe den Mut der Autorin bewundert, mit der sie von ihrem Muster abgewichen ist. Milde Gaben ist Literatur.
Das Buch erschien schon im Mai 2022 und, wieder im Diogenes Verlag.