Rezension
Das ist der vierte Krimi um die stets etwas vorlaute Ermittlerin Helene Christ. Vor drei Jahren kam sie als junge Kriminalkommissarin zur Mordkommission nach Flensburg, hat sich an vieles gewöhnt und viel gelernt – nur nicht im richtigen Moment einfach mal die Klappe zu halten und Ruhe zu bewahren. Diese Eigenschaft fehlt ihr (immer) noch.
Neu an Bord (dies ist ein echter Küstenkrimi) ist der junge Kommissaranwärter Nuri Önal. Ein aufgeweckter Typ, der sich mit Worten und Taten sehr deutlich einbringt und Helene mehr als einmal staunen läßt – seine eigenen Rückschlüsse sind häufig bemerkenswert.
Konnte sich Helene bisher immer noch auf die jahrzehntelange Erfahrung von Hauptkommissar Edgar Schimmel, genannt „der Graue“, verlassen, ist damit plötzlich Schluss. Sein Sarkasmus und seine bisweilen zynischen Kommentare sind schnell vergessen, seit den kurz vor der Pensionierung stehenden Polizisten eine Kugel lebensgefährlich verletzt hat. Für die Beschreibung der ganz persönlichen Befindlichkeiten dieser beiden höchst unterschiedlichen Ermittler, hier Helene und dort Edgar, verdient der Autor Anerkennung. An Stelle derber Äußerungen und unbeherrschter Flüche legt H. Dieter Neumann wie ein Chirurg das jeweilige Nervenkostüm frei: „Und die Teilnahmslosigkeit, mit der der alte Hauptkommissar auf die vielen Verbrechen seiner langen Dienstzeit zu blicken schien, hatte sie erschreckt. Angst war in ihr aufgekommen, ein solcher Verlust an Empathie wäre der Preis für diesen Beruf, den auch sie eines Tages würde zahlen müssen. Helene hatte bald erkannt, dass Schimmels Gebaren, die barschen Umgangsformen, seine manchmal schneidend scharfe Ausdrucksweise, nichts anderes war als der verzweifelte Versuch eines längst Desillusionierten, die fortwährenden Begegnungen mit den schlimmsten menschlichen Abgründen auf Abstand zu halten.“
An dieser Stelle stellen sich nicht nur Helene Christ, sondern allen geschulten Krimileser die spannende Frage, wer auf Edgar Schimmels Stuhl künftig sitzen wird. Denn „der Graue“ geht „aus der Reha direkt in Pension“. Und Helene ist noch nicht „lange genug im Geschäft“. Und dann treffen fast zeitgleich zwei Ereignisse ein:
Staatssekretär Hark Ole Harmsen wird mit Schusswunden am Strand aufgefunden und Helenes neue Vorgesetzte wird vorgestellt.
Ich zitiere Helene: „Sie mochte diese Frau nicht. Die kupferfarbenen kurz geschnittenen Haare von Hauptkommissarin Jasmin Brenneke, die für Helenes Geschmack etwas zu langen, grün lackierten Fingernägel, die umwerfende Figur, umschlossen von einem perfekt sitzenden hellgrauen Kostüm, das dezente Make-up im ebenmäßigen Gesicht der mittelgroßen Frau, die sie auf Ende dreißig schätzte.“ Helene konnte nicht umhin, einmal kurz an sich selbst herabzublicken, von ihrer legeren Sportjacke über die verwaschenen Jeans bis hinab zu ihren viel zu großen Füßen, die in bequemen, nicht mehr ganz neuen Sneakers steckten.
Das sind die Akteure, die sich um die Aufklärung des Mordes an Hark Ole Harmsen kümmern sollen. Schon bei „Staatssekretär im Wirtschaftsministerium“ klingeln die ersten Alarmglocken. Das bedeutet zusätzliche Erschwernis und Rücksichtnahmen bei den Ermittlungen. Handfeste politische treffen auf wirtschaftliche Interessen. Es gibt Antragsteller und abgewiesene Bittsteller. Es gibt immer dieselben Sieger und es Menschen, die sich bereits als Nachfolger für ein Amt sehen. Hier eine Absprache, dort geheime Treffen und mittendrin die Ermittler, die den Fall klären, aber niemanden zu nahe kommen sollen. 
Wie geht das denn?
Es kommt zu so etwas wie einer Aufgabenverteilung zwischen den beiden Kommissarinnen. Jede kann auf einem anderen Gebiet punkten: Hauptkommissarin Brenneke kann auf ihre Erfahrungen aus dem LKA zurückreifen, wo sie in der Abteilung Staatsschutz gearbeitet hat und Helene Christ weiß, wie ein Kartenplotter an Bord eines Bootes funktioniert. Kurzum, alles was schwimmt, ist Sache von Helene Christ.
H. Dieter Neumann zeigt dem Leser, wo er zu Hause ist. Die Flensburger Förde ist sein Revier. Er zeigt außerdem, was in Politik und Wirtschaft alles möglich ist und überlässt dem Leser die Entscheidung zwischen Ohnmacht und Bestätigung der Zustände. Und dann hat der Autor noch eine handfeste Überraschung.
Nebel über der Küste erschien im Mai 2017 im GRAFIT Verlage, wie die drei vorangegangenen Bände um Helene Christ auch. Ich empfehle den Besuch der Website des Autors. www.hdieterneumann.de. Sie ist nicht nur ansprechend aufgebaut sondern auch sehr informativ. 
H. Dieter Neumann
Nebel über der Küste


Bewertung

5/5 Region

5/5 Sprache

5/5 Originalität

5/5 Emotion

5/5 Plot (das Handlungsgerüst)


Gesamtbewertung

Informatives

Autor/en

H. Dieter Neumann, Jahrgang 1949, war Offizier in der Luftwaffe der Bundeswehr und in verschiedenen internationalen Dienststellen der NATO. Anschließend arbeitete der diplomierte Finanzökonom als Vertriebsleiter und Geschäftsführer in der Versicherungswirtschaft, bevor er sich ganz aufs Schreiben verlegte. Der passionierte Segler ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und lebt in Flensburg.

Kommissar/e

H. Dieter Neumann stellt in seinem ersten Band die junge Kriminalkommissarin Helene Christ, stets nur Helene genannt, vor. Noch muss sie sich gegenüber dem kurz vor der Pensionierung stehenden Kollegen Edgar Schimmel behaupten. Mit Lächeln, Charme und eiserner Disziplin gelingt es ihr. Sie versteht ihn und kennt genügend Mittel und Wege für einen freundschaftlich kollegialen Umgang. Im zweiten Band tritt Helene deutlich selbstbewußter auf. Das passt zu ihr. Sie ist eine glaubwürdige Ermittlerin, die sich der Leser gut als Protagonistin für weitere Fälle vorstellen kann. Ja, und im dritten Band erlebt der Leser Helene in Hochform.

Tatort/e



"Dunkles Wasser" von H. Dieter Neumann



"Feuer in den Dünen" von H. Dieter Neumann



H. Dieter Neumann - Interview mit dem Autor