Tod in der Speicherstadt ist mehr als ein Kriminalroman. Es ist ein überaus spannendes Geschichtsbuch, das Historie, Zeitgeschichte, ein wenig Familiensaga und prägnante Figuren bietet. Wohl ausgewogen und wissenswert nicht nur für Freunde anspruchsvoller Kriminalromane, sondern auch für Hamburger, die sich nicht mit oberflächlichem Wissen über "die Speicherstadt" begnügen wollen.
Man kann sich natürlich beim Gang entlang der alten Speicher mit der Vorstellung zufrieden geben, sich in etwa vorzustellen, "wie es damals so war". Nein, das haben die Menschen, die hier vor mehr als einhundert Jahren gelebt und gearbeitet haben, nicht verdient. Denn bei der Speicherstadt geht es nicht nur um "schöne alte Gebäude", um Handel und Stadtentwicklung: es geht um die Menschen, die den Handel erst ermöglichten und diesem und jenen erst zu Wohlstand und Reichtum verholfen haben.
Und genau da, an diesem spannenden Punkt, beginnt Anja Marschalls Geschichte um den Tod des Sohns des wohlhabenden Kaffehändlers Bellingrodt. Der Leser kann sich bei der Autorin für ihre aufwendige und sicher häufig mühselige Recherche bedanken, denn nur fundiertes Wissen um die Umstände und Zustände zur damaligen Zeit verschaffen dem interessierten Leser ein wahrheitsgetreues Bild. Nur so entsteht ein historischer! Kriminalroman.
So, das ist die Bühne. Fehlen noch die Akteure. Die großen und die kleinen Leute. Auch hier beweist Anja Marschall Fingerspitzengefühl. Auch die kleinen Nebenrollen sind hervorragend besetzt - der Leser spürt das, wenn sich auch bei scheinbar Nebensächlichem Beklemmung breit macht.
Protagonist der Handlung ist Kommissar Hauke Sötje aus Kiel. Er soll in Hamburg, genauer gesagt im Freihafen, mysteriöse Umstände aufkkären, die zum Tod eines Seemannes führten. Und um eine Schmuggerbande geht es, auf deren Konto mindestens zwei Morde gehen. Aus Sicht des Ersten Kommissars der Hansestadt, Roscher, ein Ding der Unmöglichkeit. So etwas, wie von Hauke Sötje vorgetragen, ist in Hamburg schlichtweg unmöglich.
Hauke hört zu und versteht. Er bleibt unbeirrt - stur könnte man auch sagen. Hauke nimmt auf seine Weise Ermittlungen auf. Er muss zwar Weisungen und Vorschriften befolgen, kann sich aber auf die ihm eigene Art und Weise durch geschicktes Fragen und Begragen tiefe Einblicke in das Räderwerk des Handels und die Abläufe im Hafen verschaffen.
Es gibt noch einen Protagonisten, nein, eine Protagonistin. Sophie Struwe, Haukes Verlobte. Sie fühlt sich geradezu verpflichtet, eine vermisste junge Frau und ihr Kind in der Stadt aufzusüren. Was Sophie erlebt, ist nicht weniger aufregend als Haukes Tätigkeit.
Gehört dieser Einschub zur eigentlichen Handlung?
Ja - aber mehr verrate ich nicht. Denn Hauke und Sophie, das ist wieder ein anderes Thema.
Es ist ein Kriminalroman, der keineswegs Lebensweisen und Verhalten dieser oder jener beschönigt. Der Leser staunt und erschrickt und zuckt entsetzt zurück. Anja Marschall schont ihre Leserschaft nicht. Sie klärt auf und erklärt. Man glaubt ihr jede Zeile. Wirft man einen Blick auf ihre Vita, dann wird vieles klar. Anja Marschall kommt nicht nur aus dieser Stadt, sie ist auch noch "vom Fach".
Tod in der Speicherstadt erschien 2019 bei emons:.